Am Beispiel der Waldheidelbeere
Um unseren Körper am Leben zu erhalten müssen wir regelmäßig etwas essen und von der Natur etwas nehmen. Dieses Nehmen ist zunächst weder schlecht noch gut, weil es in der Natur der Sache liegt. Es drückt sich sogar eine sympathische, lebensbejahende Geste aus, wenn jemand sich an den Speisen erfreut. Gleichzeitig aber wächst das Ungleichgewicht, in dem die Natur erschöpft, die Böden auslaugen, die Pflanzen anfälliger werden. Ihr Geben ist zu einseitig und sie scheint von Seiten des Menschen eine wirkliche Gabe zu brauchen.
Wenn mit viel Fürsorge ein Garten gepflegt wird, werden in der Regel die Pflanzen gesünder gedeihen. Auch die Kenntnisse zu den Pflanzen gehören dazu, um ihnen die für sie geeigneten Bedingungen schaffen zu können. Heidelbeeren benötigen beispielsweise eine eher sandige bis moorige und saure Erde. Je umfassender man eine Pflanze kennt, umso idealer kann man sie in ihrem gesunden Wachstum fördern. Durch dieses Interesse entsteht ganz natürlich eine Beziehung zu den Pflanzen im Garten.
Auch im menschlichen Miteinander ist es deutlich spürbar, ob eine Person sich mit wirklichem Interesse einem Freund widmet oder ob sie ihn nur benützt, um sich ihre Sorgen von der Seele zu reden. Ein Anteilnehmen des anderen wird man direkt als erbauend und sogar kräftigend erleben, während man sich nach einem „Benützt-werden“ spürbar erschöpft und seiner Kräfte beraubt fühlt. Übertragen auf die Begegnung mit der Pflanzenwelt wirken genauso abbauende oder aufbauende Kräfte vom Menschen ausgehend, je nachdem, wie er sich in Beziehung bringt. Er kann die Pflanzen mehr nach ihrem reinen Nutzwert betrachten oder ihnen mit Aufmerksamkeit für ihre Art begegnen.
Beim Pflücken von Waldheidelbeeren nahm ich mir vor, nicht nur an den Heidelbeerkuchen zu denken, sondern sie einmal wahrzunehmen in ihrer ganzen Eigenart, wie sie die Natur entgegen bringt. Wo wachsen die Beeren heraus, wie sind sie angeordnet, auch im Verhältnis zu den Blättern, wie ist die charakteristische Wuchsart der ganzen Pflanze, usw.. Obwohl ich in der Vergangenheit schon vielmals Heidelbeeren gepflückt hatte, bemerkte ich etwas beschämt, dass ich sie nicht wirklich gut beschreiben könnte.
Reife Beere mit blütenhafter Zeichnung
Auf einem dünnen verholzten Stängel verzweigt sie sich intensiv buschartig
Leichtigkeit einerseits und zusammenziehendes Element
andererseits durch die verholzten, harten Stängel
Am Abend waren die Eindrücke noch sehr lebendig: die weißlich “bereiften“ Beeren in ihrem matten Blau, zwischen den Blättchen sitzend und locker über den ganze Strauch verteilt. Sie neigen sich nach unten, aber auch horizontal nach außen und nach oben – wie heiter und verspielt. Ganz bewusst hatte ich einige Früchte gekostet. Einerseits waren sie fruchtig, leicht säuerlich und andererseits boten sie eine sehr milde Süße und je nach Standort waren sie sehr saftig erfrischend oder etwas trockener oder sogar fast mehlig. Im Mund verblieb neben der blauen Farbe ein zusammenziehendes Empfinden.
Wechselständige Verzweigungen
und insgesamt recht bewegt
Noch nie zuvor hatte ich die Heidelbeere so aufmerksam angeschaut und wahrgenommen. Je mehr ich sie mir bewusst angeschaut hatte, umso mehr kamen weitere Fragen auf, auch hinsichtlich einer idealen Zubereitung.
Jede Beere wächst aus einer Blattachsel heraus.
Beim Betrachten ließ ich einmal alle Informationen und Bewertungen über gesund und ungesund oder die Inhaltsstoffe, die ich kannte beiseite und widmete mich nur dem, was ich sehen konnte. Die Heidelbeere erhielt unmittelbar im gegenwärtigen Moment einen Raum der Betrachtung und des Interesses, in dem sie sich ganz zeigen konnte in ihrer ureigenen Art. Sie erhielt die ganze Aufmerksamkeit.
Es fließt die Bewegung mehr hin zu der Heidelbeere, es fließt ihr tatsächlich etwas zu und es wurde spürbar, wie eine feine Beziehung zu ihr entsteht, die über ihren gesundheitlichen Nutzen oder möglichen Gaumengenuss, den sie bieten kann, hinaus reicht. Die Beobachtungen befeuerten das Interesse und das freudige Staunen, in dem ein erstes Geben liegen könnte – und rückwirkend erfährt man auch sich selbst bereichert und gestärkt.