Zwischen erholsamer Stille und stiller Traurigkeit im Nationalpark Bayerischer Wald
Eine unglaubliche Stille empfängt einen im Moment des Aussteigens aus dem Auto – in Waldhäuser am Lusen. Ich musste mehrmals stehen bleiben, so beeindruckend laut ist diese Stille. Natur pur – oder hängt es vielleicht auch damit zusammen, dass in diesem Wegabschnitt absolut kein Handyempfang besteht? – ein Blick auf das Handy bestätigt 0 Balken. Jedenfalls fallen bereits in den ersten Metern des Wanderns spürbare Belastungen von den Nerven ab.
Sehr abwechslungsreich auf schmäler werdenden Pfaden zeigt sich der Weg zum Lusengipfel und je mehr man in Gipfelnähe kommt, umso häufiger werden die dürren Baumgerippe, die zwischen den halbhohen Fichten silbergrau glänzend in den Himmel ragen. Stille Zeugen einer vergangenen Sturmkatastrophe. Ein großer Wurzelteller von einer umgefallenen, sich zersetzenden Fichte stellt sich rechts neben dem Weg auf. Unglaublich, wie flach die Fichte wurzelt. Da ist plötzlich klar, weshalb Fichten bei längerer Trockenheit so schnell dürr werden. Alle großen Wurzeln breiten sich flächig, nah unter dem Waldboden, aus und keine einzige dringt weiter in die Tiefe, wo sich mehr Feuchte finden würde.
Dann geht es weiter die steile Himmelsleiter empor zu den, mit einer besonderen grünen Flechte (genannt Landkartenflechte) bewachsenen Granitblöcken, die den Gipfel des Lusen bilden. Ein Ranger des Nationalpark ist gerade dabei ein Steinmännchen abzubauen (das wohl ein Gipfelbesucher aufgeschichtet hatte), weil im Nationalpark nichts verändert werden darf. Er erklärte mir beim Blick über den weiten jungen Fichtenbestand, dass die Fichten künftig hier wohl verschwinden werden, weil sie keine heimischen Bäume sind und in unseren Klimazonen aus Profitgründen (schnell wachsendes Holz) und nicht nach ökologischen Überlegungen angesiedelt worden waren.
Nach ruhigen Blicken über die enorme Fläche des wilden Wald geht es wieder abwärts über grüne Blöcke, vorbei an der direkt unter dem Gipfel gelegenen Lusenschutzhütte, die Forststraße hinunter. Umgefallene Bäume, vermodernde Stämme, aufgestellte Wurzelteller und eine anhaltende Stille im schimmernden Sonnenlicht zwischen den Baumkronen. Nicht so ohrenbetäubend still, wie zu Beginn des Weges, aber sehr still.
Hin- und hergerissen ist das Empfinden. Einerseits die erholsame Stille in dem seit 50 Jahren ganz sich selbst überlassenen Wald, andererseits die kreuz und quer herumliegenden Bäume und wild wachsendes Gestrüpp zwischen den vielen Buchen und Fichten. Ein Hauch von Traurigkeit mischt sich in die Ruhe, so als fehlte etwas. Fehlt nicht der Mensch mit seiner verbindenden Fürsorge, sehnt sich nicht die Natur nach dem Menschen, der sie so wahrnimmt, dass ein für beide erbauliches Miteinander stattfinden kann? Liegt in dieser Trennung nicht gerade eine Un-Natürlichkeit?
Der Mensch darf hier den Wald nicht betreten, muss streng auf dem Weg bleiben, um die Natur nicht zu stören. Es ist, als ob etwas getrennt ist, das sich gar nicht trennen lässt, als würde sich der Mensch aus sich selbst ausschließen, indem er seine schöpferischen Potentiale des Gestaltens und Veredelns und damit seinen eigenen innersten Wesenskern verneinen.
Musik, Malerei, Sprache, Dichtkunst, alles Künstlerische und Schöpferische ist nur dem Menschen eigen und unterscheidet ihn von der Natur. Kultur schaffend tätig zu sein liegt in der seelischen Natur des Menschen, die ihm eine gestaltende Stellung gegenüber der physischen Natur gibt. Diese veredelnden gestaltenden Potentiale des Menschen in ihrer ständigen Weiterentwicklung finden ebenso ihren Ausdruck in einem gut gelungenen Sauerteigbrot oder einer harmonisch zubereiteten Speise aus.
Das Getreide wird nicht unberührt
sich selbst überlassen …
… sondern mit wohl überlegten Gedanken und soliden Kenntnissen zu den Gär- und Hitzeprozessen zu einem veredelten Kulturprodukt angehoben.
Die Forschungs- und Erkenntnismöglichkeiten über die vielschichtigen Abläufe zwischen Pflanzen, Tieren und Insekten in einer intakten Natur sind immens und wir können in dem wilden Wald endlos lernen, wie fein sich die Dinge gegenseitig bedingen. Aber fehlt nicht als fortschrittlichste und mutigste Forschungsfrage, wie der Mensch sich innerhalb dieser wirksamen Lebenskräfte in beziehungsvoller und Lebenskräfte schaffender Weise bewegen kann, anstatt sich heraus zu nehmen?
Eine stille Sehnsucht der Natur
nach dem Menschen
ausgebreitet so weit das Auge reicht
Die Stille ist wohltuend und eindrucksvoll, aber sie kann die leise Traurigkeit der Trennung nicht übertönen. Gedanken drängen sich auf, die ich von Heinz Grill hinsichtlich einer von ihm beschriebenen spirituellen Ökologie einmal vernommen habe, wonach die Natur, die einzelnen Pflanzen, die Bäume vom Menschen sogar angeschaut, gesehen, wahrgenommen werden wollen. Keine noch so großen Anstrengungen im Sinne von äußeren Regeln und Schutzmaßnahmen führen demnach dahin, wo eine wirkliche Beziehungsaufnahme einmünden kann – in den intensivsten Aufbau und Schutz der Natur.
Anmerkung zum Titel:
Der Kinofilm über die Entstehung des Nationalpark Bayerischer Wald trägt den Titel „Der wilde Wald“. Er beschreibt die vielen neu entstandenen Lebensräume für viele Tierarten und die wertvollen Forschungen zu den unzähligen Wechselwirkungen von Fauna und Flora. Die Verbindung von sehr schönen Naturaufnahmen und Dokumentation machen es wert ihn anzusehen. Er formuliert die Idee noch mehr solcher Zonen der Trennung von Natur und Mensch zu etablieren, um die Natur zu retten.